Warum ich einer Hummel noch was schuldig bin
Kürzlich war ich zu Fuß unterwegs, als ich plötzlich stockte. Irgendetwas war mir aufgefallen. Aber was? Ich lief ein paar Schritte zurück. Ah, das Auto hier, an dem ich vorbeigelaufen war. Ein Auto ist zwar eher kein seltener Anblick in der Stadt, aber dieses hier hatte meine Aufmerksamkeit geweckt. Denn die Frontpartie war übersät mit zermatschten Insekten. Ich kenne diesen Anblick aus meiner Kindheit, habe dergleichen aber lange nicht gesehen und dachte eigentlich, dass es einen solchen mobilen Insektenfriedhof mangels Insekten gar nicht mehr gäbe. Das ist ja toll, dachte ich, während mir im selben Moment auffiel, dass ich mich anscheinend gerade über den Anblick toter Insekten freute. Nein, natürlich nicht. Ich staunte nur, dass es wohl doch noch Gegenden mit reichlich Insekten geben muss. Wo mag dieses Auto unterwegs gewesen sein? Keine Ahnung. Sicherlich nicht in der Stadt, in der ich wohne. Dabei heißt es doch, dass die Artenvielfalt in unseren Städten mittlerweile größer wäre als auf dem Land.
Welchen Anteil haben eigentlich Fahrzeuge am Artensterben und Rückgang der Biomasse bei fliegenden Insekten-Populationen, habe ich mich gefragt. Das müsste man doch ausrechnen können. Man nehme die Anzahl der täglich von Pkw, Lkw und anderen Fahrzeugen auf deutschen Landstraßen und Autobahnen gefahrenen Kilometer, peile mal so über den Daumen einen Wert von 0,001 Gramm zerschellter Insekten-Biomasse pro Kilometer an, addiere das Ganze von den 70er Jahren bis heute auf und … ach, schon gut, ich glaube, ich will’s gar nicht wissen.
Ab einem bestimmten Tempo werden unsere Fahrzeuge eben zu Insektenkillern. Und Insekten werden in keiner Verkehrsopfer-Statistik erfasst. Das lässt sich schwer ändern. Veränderlich aber ist unser Verhältnis zu dem, was wir Natur oder Umwelt nennen, mit den Insekten in einer Hauptrolle. Dieses Verhältnis ist mitunter ziemlich widersprüchlich.
Auf der einen Seiten sind die “Steingärten des Grauens” weit verbreitet, also Schotterwüsten als klare Ansage gegen jede Form von störendem Leben und mit dem zusätzlichem Effekt der Aufheizung anstelle von Kühlung durch pflanzliches Grün. In ihrer perversesten Form garnieren Steingärtner ihre Wüsteneien mit Insektenhotels, um sich dann zu wundern: “Du Schatz, schau mal, da sind ja gar keine Insekten in unserem Hotel. Komisch.” Seit 2020 hat Baden-Württemberg solche “Gärten” verboten. Immerhin ein Anfang.
Im krassen Gegensatz zu dieser Verachtung des Lebens steht eine bei manchen Leuten ausgeprägte, übertriebene Heiligsprechung der Natur, eine Verklärung als Mutter Natur, in der alles so unbedingt verehrungswürdig zu sein hat, dass man sich als niederes Wesen wie ein Mensch kaum mehr frei in ihr bewegen kann.
Vielleicht würde es uns und unserer Welt am ehesten nützen, wenn wir anstelle solcher Extreme einen entspannteren, bodenständigeren Blick entwickeln. Ein gewisser “Robinga Schnögelkögel” kann dabei helfen. Es handelt sich um einen sympathischen Natur-Proll, der unter anderem bei Instagram sein Unwesen treibt. Der Kollege Schnögelkögel bezeichnet Stauden zum Beispiel mal als geile High-Performer, an denen sich Schmetterlinge mal so richtig hart Nektar reinballern können. Und der auch klar sagt, welche Pflanze in einem Naturgarten aber mal so gar nichts verloren hat, weil Insekten mit so einem Aparillo nichts anfangen können.
Geht doch. Es darf auch mal gelacht und muss nicht alles übertrieben ernst genommen werden – ganz wie in diesem Buch. Denn ernst genug ist die Sache ja allemal. Während wir mit den Gliederfüßern unsere Lebensgrundlagen killen, entdecken wir gerade erst, wie sehr wir dieses Leben unterschätzen. Moment, „Gliederfüßer"? Genau, das Buch beschäftigt sich auch mit der Frage, was eigentlich unter Gliederfüßer fällt, also Insekten, Spinnen und Krebstiere. Eine Geschichte geht auf die unterschiedliche Anzahl von Beinen ein (Insekten 6, Spinnen 8, Krebstiere teils deutlich mehr).
Wusstet Ihr zum Beispiel, dass Spinnen träumen? Tun sie. Oder meint Ihr auch, dass zum Beispiel Hummeln nicht unbedingt zu den hellsten Kerzen auf dem Kuchen der Evolution zählen? Weil sie das auch gar nicht sein müssen, da sie ja nichts anderes machen, als von Blüte zu Blüte zu fliegen und dabei – putzig! – zu brummen? Dazu ein Zitat aus der GEO: “Doch obwohl das Bienenhirn nur rund eine Million Nervenzellen umfasst – das menschliche kommt immerhin auf 86 Milliarden – gelten Bienen (zu denen die Hummeln gehören) schon länger als die Schlaumeier im Reich der Insekten. So können sie etwa addieren und subtrahieren, das Konzept der „Null“ verstehen und Gesichter wiedererkennen.”
Und sie können noch mehr: sich beschweren zum Beispiel. Das haben wir bei uns im Garten erlebt. Wir hatten im späten Herbst noch blühende Rosenmalven abgeerntet und waren gerade dabei, die Malven zu verarbeiten, um daraus Pflanzenfarbe zu gewinnen, als mir eine Hummel auffiel. Sie flog in gerade Linie ein paar Meter auf uns zu, dann in gleicher gerader Linie wieder von uns weg, dann wieder direkt auf uns zu und so weiter immer hin und her in gerade Linie. So fliegen Hummeln sonst nie. Warum flog die so? Um uns klarzumachen, dass sie nicht amüsiert ist, dass wir gerade ihr Buffet abgeräumt haben. Nachvollziehbar. Mal angenommen, ich säße an einem Tisch und esse und es käme jemand vorbei, der mir einfach so den Teller mit meinem Essen wegnimmt. Da würde ich ja auch in gerader Linie hin- und herfliegen, so sauer wäre ich. Wie die Hummmel, der ich noch was schuldig bin und der wir ganz sicher nicht noch einmal das Futter wegnehmen werden.
Bevor es jetzt aber gleich genug der Vorworte ist, noch eine hoffnungsvolle Geschichte: Hans-Dietrich Reckhaus hat ein Familienunternehmen geerbt, das Pestizide herstellt. In einem Interview in taz / FUTURZWEI sagt er: “Wir produzieren den ganzen Tag in Bielefeld Insektenvernichtungsmittel, 100.000 Stück gehen da täglich übers Fließband. Und auf einmal wird Ihnen klar: Ohne Fliegen gibt es keine Vögel mehr, ohne Mücken gibt es keine Süßwasserfische mehr. Ohne Insekten geht die Welt zu Ende.” Was macht Hans-Dietrich Reckhaus? Er lässt auf den Verpackungen seiner eigenen Produkte Hinweise anbringen, die vor eben diesen Produkten warnen. Und sein Plan lautet: “Mein gesellschaftlicher Beitrag ist, dass ich den Markt der Insektenbekämpfung nach unten bringe.”
Wenn Insekten so groß wie Hunde wären, würden wir noch weniger von einer Mücke gestochen werden wollen, schon klar. Aber wir würden die aus unserer Sicht so fremdartige Schönheit dieser ganz anders gebauten Wesen viel besser sehen können. Da Insekten aber nicht so groß wie Hunde sind, helfen uns Jörns Fotos, diese fremde Welt zu würdigen, bei der die harte Schale außen liegt (Exoskelett), während bei uns der harte Kern sich im Gegenteil innen versteckt (Knochen, Skelett – mit Ausnahme des menschlichen Kopfes, bei dem es heißt: harte Schale, weiche Birne).
So, jetzt aber Bühne frei für den Auftritt von Jörns erstaunlichen, gestochen scharfen und unseren Blick schärfenden Bildern und von Patricks amüsanten, phantasievollen Geschichten aus der Welt der Arthropoden. Ich denke, man wird mit diesem Buch nie wieder in die Natur und auf die Insekten und anderen Gliederfüßer blicken wie zuvor. Auf dass die große Verantwortung für die kleinen Wesen nicht schwer wiegen, sondern uns eine fröhliche Verbundenheit bescheren möge.
Berlin im Oktober 2024, Michael Bukowski