Auch Nachhaltigkeit kann inszeniert sein
Fragt man Robert, was das Schönste an seinem Leben ist, dann sagt er: „Die Fähigkeit, sich zusammenzurollen und abzuwarten, bis der Wahnsinn vorbei ist.“ Das ist keine Floskel; Robert meint das wörtlich. In einer Welt, in der selbst Komposthaufen nicht mehr sicher sind, ist ein panzerhartes „Ich bin dann mal weg“-Manöver oft die beste Reaktion. Roberts neuestes Versteck ist die rechte Vorderradrolle eines Einkaufswagens. Kühl, metallisch, zuverlässig ratternd – eine Art Kreuzfahrtschiff für Bodenbewohner. Der Plan ist simpel: kurze Mitfahrt, dann bei der Parkbucht raus und zurück zum geliebten Brombeerstrauch. Aber wie es Pläne so an sich haben – sie machen manchmal, was sie wollen.
Als Rollassel ist Robert ein Klassiker unter den europäischen Bodenbewohnern. Seit Generationen lebt seine Familie zwischen morschem Holz, Laub und gelegentlich im Blumentopf. Ihr Körper ist gewölbt, ihre Antennen elegant zweigliedrig, ihre Uropoden – die kleinen Plättchen am Hinterteil – wie winzige Türstopper. Und wenn’s brenzlig wird? Zack, Kugel. Das schützt nicht nur vor Fressfeinden, sondern hilft auch bei Trockenheit. Denn Robert kann sich im eingerollten Zustand bis zu 53 % Wasserverlust sparen. Eine wandelnde Klimalösung, made by Evolution.

Seine versteckte Mitfahrt wird ihm zum Verhängnis. Als der Einkaufswagen durch eine automatische Schiebetür geschoben wird, muss Robert seine Facettenaugen zusammenkneifen. Es wird hell, steril-hell, „Zitronenmelisse-und-Lavendel-hell“. Und so beginnt seine Geschichte – mit einer Fahrt, die ungewollt ins Herz eines Biomarktes führt. Und eine Rollassel, die entsetzt feststellt: Zwischen Chiasamen, Sojakerzen und Avocadobergen liegt manchmal ein tiefer Abgrund. Und der heißt: Inszenierung.
Die Luft riecht nach Eukalyptus, er wagt einen ersten Blick. Unter ihm glänzt der Linoleumboden in biologisch imitiertem Beige. Überall Regale, perfekt ausgeleuchtet, mit Etiketten, auf denen Worte stehen wie fair, vegan, nachhaltig, klimaneutral. Zwischen den Regalen: Kundschaft. Gesund aussehende Menschen in Leinenhosen, viele mit Jutebeuteln unterwegs. Eigentlich wirken sie gestresst. Trotzdem tragen sie ihre Körbe so bedacht, als hätten sie Angst, der mitfahrenden Zucchini die Gefühle zu verletzen. Robert klettert vorsichtig aus der Radachse. Es ist, als hätte man seinen Lieblings-Komposthaufen durch einen Instagram-Filter gezogen. Alles glänzt. Alles ist… irgendwie gewollt.
Zuerst krabbelt er durch die Getränkeregale. Dort trifft er auf den Regenwurm Gustav. Dieser war zuerst in einem Netz identisch großer Biogurken gelandet und ist nun orientierungslos gefangen zwischen Kombucha-Ingwer-Traum und Hafer-Wasser mit Aura. Gustav sagt nur: „Ich glaube, ich brauche jetzt erst mal einen echten Schluck Erde“. Macht Sinn, denn wer möchte hier das Wasser trinken? In Glasflaschen, etikettiert mit Bergen, Quellen, spirituellen Weisheiten. Heiliges Quellwasser aus der Schweiz – eingeflogen, versteht sich. Die Rollassel liest das Etikett: CO₂-kompensiert. Und fragt sich: Wie viele Bäume braucht es eigentlich, um einen halben Liter Quatsch auszugleichen?
Robert versteckt sich unter dem Regal mit den Proteinriegeln aus Grillenmehl – und staunt. Da liegen sie: „Cricket Bites“ – die Zukunft des Snackens, direkt neben Öko-Knabberei aus Ackerbohnen. Verpackt in Hochglanzplastik mit mattem Öko-Finish. Ironischer geht’s kaum, denkt er. Grillen als Inhaltsstoff – aber wehe, sie krabbeln lebendig durch den Markt, dann kommt der Kammerjäger.
Am Ende des Kühlregals wird die Rollassel von Eleonora entdeckt. Sie ist eine Fruchtfliege mit revolutionärem Mindset. Eleonora hat sich in den Bio-Markt eingeschlichen, um für kürzere Transportwege und weniger Verpackung zu demonstrieren. „Die Mango da vorne ist aus Peru! PERU! Und eingewickelt in Plastik, das nach Minze duftet. Das ist doch Wahnsinn“, zischelt sie, während sie wütend um die Müsliriegel mit Trockenmango und Spirulina kreist. „Die meinen’s gut“, sagt Robert. „Und manchmal reicht das ja schon.“ „Nein!“, ruft Eleonora. „Guter Wille reicht nicht, wenn er mit Klimaanlage und LED-Spotlight inszeniert wird. Grün ist das neue Glänzend!“ Robert versteht, was sie meint. Zwischen den Bio-Trauben und dem Himalaya-Salz für Kinderfüße bleibt kaum noch Platz für echten Wandel. Alles wirkt wie ein Theaterstück.
Er denkt an das, was er neulich im Brombeerstrauch aufschnappte – da hatte ein Marienkäfer von einem Artikel in einer großen Menschen-Zeitung erzählt: „Die Bio-Lüge“. Angeblich würden manche Betriebe konventionelle Ware als Bio ausgeben, Biohühner eng an eng halten und dann behaupten, das sei völlig legal. Sogar anerkannte Ökosiegel würden den Hühnern kaum genug Platz geben, um den Schnabel zu heben. Robert schüttelt die Fühler. Natürlich kann nicht jeder Biohof ein Idyll sein – aber wenn selbst Nachhaltigkeit ein Etikett ist, das sich biegen lässt wie eine welke Selleriestange, dann läuft doch etwas schief.
Die größte Ironie offenbart sich an der Kasse. Dort steht ein Schild: Wir lieben unsere Umwelt. Bitte kaufen Sie unsere Baumwollbeutel – nur 5,90 Euro! Daneben: ein Aufsteller mit kleinen Pflanzen im Glas. Urban Gardening für den Schreibtisch. Robert krabbelt näher: Quarzsand, Plastikdeckel, Samen in Zellophan. Eine Zimmerpflanze, die nie wachsen wird – aber ansonsten hübsch aussieht. „Weißt du“, meint Eleonora, „manchmal glaube ich, der Bio-Markt ist wie ein Terrarium. Innen warm, grün, kontrolliert – aber draußen tobt das echte Leben. Trockenperioden, Artensterben, Müll. Hier drin fühlen sich die Menschen gut, weil sie Mandelsahne und Kokoscreme kaufen. Aber draußen ändert sich wenig.“ Robert nickt. Er denkt an den Kompost hinter dem Brombeerstrauch. Dreckig, ja. Chaotisch, auch. Aber ehrlich. Keine Labels, keine Werbesprüche. Nur Prozesse. Wandel. Zerfall und Entstehung.
Am Ausgang steht ein Spiegel mit dem Schriftzug: Du bist Teil der Lösung. Skeptisch blickt Robert hinein, sieht sich – ein graubraunes, gepanzertes kleines Ding. Kein Teil der Inszenierung, aber ein Teil des Ganzen. Ein stiller Recycler. Ein Rückführer. Ein Realist. Er rollt sich wieder ein. Diesmal nicht aus Angst, sondern aus Trotz. Und als der Einkaufswagen zurückgeschoben wird, lässt er sich dankend nach draußen fahren – hinaus aus der Welt der kreativen Etiketten, zurück in die Welt der echten Kreisläufe.
Später, am Brombeerstrauch, erzählt Robert von seinem ungewollten Ausflug. Eine der Schnecken nickt nur und sagt: „War ja klar. Schon meine Oma sagte: Wenn’s glänzt, ist es selten gut für den Boden.“ Und während sich alle anderen um ein matschiges Apfelstück versammeln und kraftvoll zubeißen, denkt Robert: Vielleicht ist wahre Nachhaltigkeit genau das – leise, bescheiden, unfotogen. Aber verdammt wichtig.
