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Aus Versehen Königin

Wenn Alfons sich ganz groß macht, schafft er es auf stolze fünfeinhallb Millimeter. „Fünfeinhalb!“, betont er gern – ohne die Fühler gerechnet, versteht sich. Alfons ist eine Braune Wegameise, ein winziger Bewohner des morschen Holzes, geboren in einem toten Ast, zwischen Efeuranken und dem Duft von Laub. Er ist etwas größer als andere Männchen, deutlich größer als Arbeiterinnen – und trotzdem meistens unsichtbar. Heldentaten? Keine. Dafür täglich: Blattläuse pflegen, Honigtau ernten, Gänge glätten. Alfons war nie der Lauteste, nie der Auffälligste. Und dann kam dieser Tag, an dem er – ohne es zu wollen – mehr glänzte, als gut für ihn war.

Es beginnt an einem Sommervormittag. Die Sonne steht hoch, der Ast knackt in der Hitze, und Alfons streckt sich zum Honigtau-Brunch. Vielleicht einen Tick zu weit. Denn plötzlich schimmert sein Körper im Licht – gelblich-braun, fast wie poliertes Bernstein. Dazu sein dunkler Kopf, die zarten Beine: ein Juwel, das lebt. „Guckt mal!“, ruft eine andere Ameise. „Was für ein Glanz!“ Binnen Minuten ist Alfons umringt. Arbeiterinnen tuscheln. Alte Wächterinnen zücken ihre Fühler zum Gruß. Selbst Irma, die älteste Aufseherin, kommt vorbei – die, die sich sonst höchstens für echte Königinnen interessiert. „Sieh einer an“, sagt Irma. „Unsere neue Hoffnung!“ Alfons blinzelt verwirrt. Hoffnung? Wieso? Er will doch nur einen zweiten Schluck Honigtau. Aber Irma legt bereits die Krone der Erwartung auf sein Haupt. „Eine neue Königin“, flüstert sie. „Endlich!“

Alfons

Und bevor Alfons „Moment mal“ zirpen kann, wird er auf sechs Beinen emporgehoben und in die tiefste Kammer des Astes getragen. Eine Kammer, die seit langem leer steht. Reserviert für besondere Gäste. Oder eben: für Königinnen. Alfons weiß wenig über Königinnen. Nur, dass sie groß sind. Breit. Unverwechselbar duftend. Und dass sie Eier legen können, ohne dass ihnen schwindelig wird. Er selbst? Ist vielleicht etwas größer als andere Männchen, dafür aber schlank gebaut und er hat noch nie ein Ei gelegt. „Aber… ich bin keine Königin“, protestiert Alfons kleinlaut. „Papperlapapp“, ruft Irma. „Glanz ist Schicksal!“

In der Welt der Ameisen scheint alles klar geregelt: Arbeiterinnen bauen, pflegen, verteidigen. Königinnen gründen Kolonien, legen Eier, verströmen Majestät. Männchen? Die schwärmen, paaren sich und verschwinden wieder – schnell, diskret und zweckmäßig. Schwarz und weiß, weiblich und männlich, kein Platz für Dazwischen. Kein Platz für Vielleicht. Aber manchmal, ja manchmal, spielt die Natur eben verrückt. Selbst eine leise Ameise kann plötzlich Erwartungen wecken, die viel größer sind als sie selbst. Denn die Natur war nie als ein starres System gedacht. Sie liebt ihre Ausnahmen. Ihre Zwischenräume. Es gibt Vögel, die beide Geschlechter in sich tragen. Fische, die ihr Geschlecht mitten im Leben wechseln. Käfer, die sich in ihrer Pracht nicht an menschliche Vorstellungen halten. Und: Glanz kann blenden. Haltung kann täuschen.

Tage vergehen. Alfons – jetzt „Alfine“ genannt – wird gefüttert, betüddelt, besungen. Irgendjemand bastelt sogar ein Miniaturzepter aus Fichtennadel. Nur Eier legt er keine. Das Munkeln beginnt. „Noch keine Brut?“, fragt eine Arbeiterin. „Vielleicht braucht sie mehr Blattlausmilch?“, schlägt eine andere vor. „Vielleicht… ist sie eine Spätentwicklerin“, murmelt Irma, zunehmend nervös. Alfons sitzt in seiner Kammer und betrachtet sich. Er fühlt sich nicht weiblich. Nicht königlich. Nur… wie er selbst. Eine kleine, leicht glänzende Ameise, die sich streckt, um ein bisschen größer zu wirken, aber genau weiß: Gegen das Bild, das andere von ihm zeichnen, kommt man schwer an.

Als die ersten Blätter welken und der Honigtau knapp wird, kippt die Stimmung. Im Ameisenstaat zählt Leistung. Nicht Hoffnung. Und schon gar nicht hübsches Schimmern. Eine Versammlung wird einberufen. Der gesamte Stamm versammelt sich im Haupttunnel, der einmal in mühevoller Kleinstarbeit durch eine Astgabel gefräst wurde. „Alfine…“, beginnt Irma feierlich, „du hast unser Herz gewonnen, aber… in Sachen Brut bist du eine große Enttäuschung.“ Alfons tritt vor. 5,5 Millimeter Mut. Vielleicht sogar 5,6, weil er sich besonders streckt. „Ich bin nicht das, was ihr sucht“, sagt er. „Ich wollte doch nur einen ruhigen Tag haben. Ein bisschen Blattlausklopfen, sonst nichts. Aber ihr habt in mir etwas gesehen, das ich nie war. Ich bin nur Alfons. Mit einem Hauch Glanz – der manchmal mehr über eure Wünsche erzählt als über mich.“

Stille. Dann, langsam, verneigen sich die ersten Köpfe. Nicht aus Ehrfurcht. Sondern aus Respekt. Alfons kehrt zurück in die normalen Gänge. Kein Honigtau auf Blättern serviert. Keine Lobgesänge mehr. Aber: ein echtes Lächeln hier, ein freundliches Antippen da. Er ist wieder einer von vielen. Nur eben: er selbst. Wenn die Sonne durch die Rinde bricht, schimmert sein Körper manchmal immer noch. Und einige sagen dann: „Da, seht! Unser kleines Wunder.“ Und Alfons? Zuckt nur mit den Fühlern und denkt: Man muss keine Königin sein, um zu glänzen.

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