Der alte Mann und der Feldgrashüpfer
„Ich glaube, ich werde allmählich… ungehört“, murmelt Fridolin und zuckt mit einem Hinterbein. Es ist Mittag, und die Sonne brennt auf das vertrocknete Gras am Bahndamm wie ein fleißiger Grillmeister. Perfektes Wetter für den Chorthippus apricarius – so nennt ihn die Wissenschaft. Für sich selbst ist er einfach Fridolin: Feldgrashüpfer, männlich, mittelgroß, braun mit grünlichen Einsprengseln, ungefähr 15 Millimeter pures Temperament auf sechs Beinen. Fridolin ist Sänger. Kein Lautsprecher, keine Rampensau, eher… „Tick — schrrr — schrrr, tick — schrrr — schrrr“. Wer sein Lied kennt, der weiß: Da ist nichts Zufall, alles so gewollt. Ein Signal, das Weibchen locken, Rivalen fernhalten und den Kopf beruhigen soll. Vorausgesetzt, jemand hört es.
Doch Fridolins Gesang, der einst in zehn Metern Umkreis deutlich zu vernehmen ist, geht heute unter im Wahnsinn der Welt. Ein Laubbläser röhrt zwei Gärten weiter, ein Presslufthammer hämmert im Takt einer nervösen Stadt, ein Bus quietscht um die Kurve. Fridolin beginnt eine Strophe, zögerlich, wie immer: „Tick — schrrr — schrrr…“ Da bellt ein Hund, und übertönt alles. Die Heuschrecke sackt zusammen wie ein müdes Gänseblümchen. Seit Tagen reagiert kein Weibchen mehr auf sein Strophenspiel. Vielleicht ist sein Rhythmus aus der Mode gekommen. Vielleicht ist alles andere zu laut. Oder vielleicht ist das Gehör der Welt einfach… kaputt.
Auf einem vertrockneten Grashalm stehend, blickt er auf das Wohnhaus am Fuß des Bahndamms und seufzt. Beton, Autos, Klimaanlagen. Wie alle Heuschrecken fühlt sich auch ein Feldgrashüpfer zwischen Halmen wohl, nicht zwischen Hauserwänden. Und doch: Auf dem dritten Balkon von links geschieht etwas Ungewöhnliches. Ein älterer Mann sitzt jeden Mittag auf einem Hocker. Er rührt sich kaum. Nur ein Wasserglas steht neben ihm. Er ist mager, fast durchsichtig, trägt Kopfhörer auf den Schultern und nicht über den Ohren – und immer wieder hält er inne. Als würde er… lauschen?
Fridolin hüpft näher, quer über eine Stromleitung und eine Efeuranke, landet schließlich auf dem Geländer. Der Mann schaut auf. „Na, du kleiner Lokführer“, murmelt er. Fridolin erstarrt. „Hab dich gestern schon gehört. Ganz kurz. Du klingst wie ’ne alte Lok. Tick, schrrr, schrrr. Hab ich seit Jahren nicht mehr gehört. Dachte erst, du wärst in meinem Ohr.“ Der Mann lächelt schief. „Tinnitus. Ein ewiges Pfeifen. Aber deine Töne waren anders.“ Fridolin vibriert leicht vor Aufregung. Noch nie hat ein Mensch sein Lied gelobt. Die meisten hören entweder nichts – oder nur „Ruhestörung“.
Von diesem Tag an besucht Fridolin den Balkon täglich. Der Mann – er heißt Ernst – beginnt, sich mit ihm zu beschäftigen. Stellt ein kleines Mikrofon auf, das er an ein altes Aufnahmegerät anschließt. Fridolins Gesang wird konserviert, analysiert, sogar abgespielt. „Weißt du, mein Gehörarzt meint, ich soll Geräusche meiden. Aber dein Takt… der beruhigt mich. Bringt Ordnung in den Lärm in meinem Kopf“, sagt Ernst. „Ich hab sogar wieder geschlafen.“ Fridolin versteht zwar kein Wort. Aber er spürt, dass seine Töne Wirkung zeigen.
Mit der Zeit entsteht zwischen Ernst und Fridolin eine Form von Vertrautheit. Nicht geplant, nicht gelenkt – einfach da. Kein Training, keine Dressur – eher ein stilles Einverständnis. Fridolin beginnt zu singen, sobald die Sonne über den Südbalkon wandert. Und Ernst hört zu. Ohne Kopfhörer, aber mit einem offenen Ohr. Irgendwann hängt Ernst ein kleines Schild ans Geländer: „Klanginsel – Bitte nicht stören. Hier singt die Natur.“ Ernst erzählt anderen davon. Erst den Nachbarn, dann seinem alten Chor. Schließlich einer Lokaljournalistin. „Ein Hüpfer heilt mein Hören“, titelt ein Artikel, der in der S-Bahn zwischen Werbung für Duschgel und Hörgeräte liegt.
Ein junger Biologe kommt vorbei, hört Fridolin und sagt nur: Chorthippus apricarius! Typisch für Bahndämme. Klanglich unverwechselbar. Und: in einigen Regionen gefährdet. Fridolins Gesang wird aufgenommen und wandert in ein digitales Archiv für Insektengeräusche. Dort summt er nun zwischen anderen Stimmen. Eine Lokomotive, nur ein paar Minuten lang, einige Strophen, jede ein Beweis dafür, dass es sie gibt: die Ruhe im Zirpen. Eine Musik im Kleinen.
Eines Abends, als die Sonne besonders tief steht, fragt sich Fridolin: Bin ich eigentlich wichtig? Natürlich bekommt er keine Antwort. Nicht von Ernst. Nicht direkt. Aber das Mikrofon ist an. Und Ernst sitzt einfach da, regungslos, mit geschlossenen Augen – er schläft nicht, sondern lauscht, als hätte er den Klang in sich selbst gefunden. Und während der Stadtverkehr flackert, Sirenen jaulen und irgendwo ein Laubbläser röhrt, sitzt Fridolin auf dem Blütenstand einer wilden Möhre, hebt sein Bein – und singt. Unten auf dem Gehweg bleiben zwei Menschen stehen. „Hörst du das?“, fragt die eine. „Wie ’ne Dampflok, oder?“ „Ja… schon lang nicht mehr gehört.“