Die Springerin und der Algorithmus
Sunny mochte das Licht. Nicht das diffuse Morgengrauen oder das grelle Licht der Mittagszeit. Ihr Moment war der Vormittag, wenn die Sonne noch flach durch die Zweige strich und das Brombeerlaub golden färbte. In diesem Glanz konnte sie auf der Unterseite eines Blattes sitzen, das kupferfarbene Schimmern ihres Körpers genießen und überlegen, welchen Jagdplatz sie heute wählen würde.
Sie war eine Kupfrige Sonnenspringspinne, sechs Millimeter groß, mit leuchtend gelben Tastbeinen und der typischen Zeichnung aus weißen Querbinden, die ihre Beute schon aus Angst erstarren ließ. Sunny hatte keinen festen Wohnort. Ihr Wohngespinst unter einer Brombeerstaude benutzte sie nur zum Häuten oder wenn der Regen kam. Ansonsten durchstreifte sie das Dickicht, immer den Gerüchen von Beute folgend. Ihre Seide spannte sie nur aus, wenn sie sprang. Ein Sicherungsfaden. Kein Gefängnis. Freiheit mit Rückversicherung.
Sie hatte ihren Rhythmus. Lauern. Anpirschen. Springen. Mal einen Weberknecht erbeuten, mal eine Taufliege. Tag für Tag das Gefühl, ihre Welt zu beherrschen. Bis zu jenem Morgen, als sie die seltsame schwarze Konstruktion sah:
Drei dünne Beine. Oben eine glänzende, kalte Plattform, die nach Plastik und Handcreme roch. Ein Kamerastativ. Das wusste Sunny natürlich nicht. Für sie war es ein künstlicher Ast, der in der Sonne glitzerte und – wichtiger noch – einen vertrauten Duft trug. Sie roch nämlich eine Stechmücke. Frisch. Sie zögerte nicht. Ein Satz, ein Sprung. Schon versuchte sie, mit den feinen Krallen an der glatten Oberfläche zu kleben. Ihre Vorderaugen, groß wie zwei glänzende Kugeln, fixierten eine Mücke, die in einem winzigen Spalt des Stativs zitterte. Perfekte Jagdlage. Sunny spannte ihren Sicherungsfaden und pirschte sich vor.
Das fliegende Mittagessen war schnell erledigt. Gift injiziert, Beute gesichert. Doch bevor Sunny in Sicherheit fliehen konnte, fiel ein Schatten. Dann ein Geräusch: klick. Ein Mensch stand da. Eines dieser großen Zweibeiner, erkannte Sunny am Geruch. Der Mensch roch nach Seife, Shampoo und Apfelschorle. „Wow. Guck mal die Farben! Voll shiny.“ Klick, klick, klick. Sunny hielt inne. Das Klicken klang harmlos, fast wie das Knacken trockener Zweige. Und doch lag darin eine Art Aufmerksamkeit, die sie nicht kannte. Und die sie mochte.

Es war nicht so, dass sie alles verstand. Aber wenn die Schatten der Menschen auf sie fielen, wenn ihre großen Augen sie fixierten, dann fühlte die Spinne etwas, das sie schwer benennen konnte. Sie war sonst unsichtbar. Eine von Millionen. Doch hier, vor diesem künstlichen Ast, spürte sie: Ich werde gesehen.
Die nächsten Stunden passierte das Unvorstellbare. Der Mensch baute den komischen Ast immer wieder um. Mal näher an den Brombeerblättern, mal im Gras, mal nahm er den schwarzen Kasten mit der großen Linse in die Hand und kam ihr damit ganz nah. Sunny wurde fotografiert. Immer und immer wieder. Menschenaugen und ein künstliches Auge verfolgten jede ihrer Bewegungen. Ihre Jagd wurde zur Show.
„Hashtag spiderqueen. Hashtag Kupferkönigin. Hashtag tinyqueen“, flüsterte der Zweibeiner, während dessen Finger über das klobige Rechteck in der Hand glitten. Was Sunny nicht wusste: Noch am selben Nachmittag wanderte ihr Bild durch digitale Kanäle. Ihr kupferfarbener Schimmer, der sonst nur im Sonnenlicht der Brombeerhecke auffiel, wurde auf Bildschirmen von tausend anderen Menschen gezeigt. Sie nannten es Ästhetik. Andere Menschen kommentierten: „Makroträumchen“, „#Tarantulalovers“ und „Mein Spirit-Animal!“.
Sunny verstand diese Wörter nicht. Aber sie spürte die Veränderung. Am zweiten Tag kehrte sie von selbst zurück. Nicht nur, weil die Jagd dort gut war. Nicht, weil dort die Stechmücken zahlreicher waren (obwohl das auch stimmte). Sie kam zurück, weil sie spürte, dass hier jemand auf sie wartete. Dass ihre Bewegungen bemerkt wurden. Dass sie, die sonst zwischen Blättern und Gräsern verschwand, plötzlich jemand war. Vielleicht mochte sie die Blicke. Vielleicht mochte sie das Klicken. Vielleicht genoss sie einfach das Gefühl, nicht übersehen zu werden.
Als der Mensch sie erneut entdeckten, schien er sich besonders zu freuen. „Heute shooten wir was richtig Spannendes. Thema: Jagd im Grünen.“ Sunny sprang, wie sie es immer getan hatte. Jagte Stechmücken, Spaltfußmücken und sogar eine kleine Wespe, die in einem Moment der Unaufmerksamkeit zu nah gekommen war. Nach jedem Sprung folgte der Klick. Und mit jedem Klick verlor sie ein Stück ihrer Unsichtbarkeit.
Der Algorithmus, ein unsichtbares Netzwerk aus Nullen, Einsen und Aufmerksamkeit, griff nach ihr. Sunny wurde Content. „Sunny, die Spider-Influencerin“. Sie blieb ahnungslos. Aber sie spürte die Blicke. Die Erwartungen. Menschen interessierten sich nicht wirklich für ihr Leben. Sie mochten die Idee von ihr.
Es kamen andere Zweibeiner. Erst zwei, dann mehr. Manche rochen nach Kaffee, andere nach Sonnencreme oder süßem Parfüm. Auch sie hielten Rechtecke in den Händen, aus denen gelegentlich ein helles Licht kam. Ein Kind drängte sich vor, um einen Blick zu erhaschen. „Da! Da ist sie!“ Ein Erwachsener flüsterte: „Vielleicht kriegen wir ein Video vom Sprung! Slow-Motion.“ Sunny verstand das alles nicht. Aber sie verstand, was Blicke bedeuteten. Ihre Vorfahren hatten gelernt, wann es besser war, den Schatten zu meiden.
Dann passierte es. Ein kleiner Vogel, ein Zaunkönig vielleicht, ließ sich auf einem Ast in der Nähe nieder. Seine Augen blitzten, sein Kopf zuckte ruckartig in Sunnys Richtung – er hatte sie entdeckt. Kein Wunder: Ihre Bewegungen waren vorhersehbar geworden. Immer der gleiche Ort, immer zur gleichen Zeit, immer im Licht. Der Angriff kam blitzschnell, ein Schnabelhieb in ihre Richtung. Nur durch einen instinktiven Sprung entkam sie dem Tod. Zitternd verharrte sie unter einem Brombeerblatt, während über ihr das Kind rief: „Oh nein, wo ist sie hin?“ Sunny verstand nicht, was ein Like war, aber sie begriff in diesem Moment: Sichtbarkeit ist gefährlich. Ihre Tarnung war nicht nur Teil ihres Körpers – sie war Teil ihres Überlebens. Und sie hatte ihr Leben fast verloren.
An diesem Abend spannte Sunny einen neuen Faden. Nicht zur Jagd. Sondern zur Flucht. Sie verließ den künstlichen Ast, ließ das Stativ, die Kamera, die Smartphones und das Interesse der Menschen hinter sich. Sie kroch durchs Gras, über moosige Steine, vorbei an betriebsamen Ameisen und mürrischen Asseln. Immer dem Geruch von unberührter Vegetation folgend.
Am Waldrand, wo von Gebüsch gesäumte Wege in den Schatten führten, fand sie einen neuen Platz. Keine klickenden Schatten. Keine Menschenaugen. Niemand dokumentierte ihren Umzug. Kein Foto zeigte, wie sie ein neues Wohngespinst baute – geschützt, duftend nach Laub. Keine Likes, keine Follower.
Manchmal huschte sie am Rand eines Spazierwegs entlang. Ein paar Menschen sahen sie vielleicht. Die meisten nicht. Und falls doch jemand ein Bild machte? Dann sprang Sunny einfach davon. Raus aus der Reichweite der Algorithmen. Sie war nie für Bühnen gebaut worden. Sie war für Sprünge gemacht.