„Pfui“, sagt der Pudel – Eine Stubenfliege im Hundesalon
„Wir sollten uns schon mal darüber unterhalten, was der Wert eines jeden Wesens ist. Neulich habe ich was erlebt, was mich einfach nicht loslässt.“, sagt Benjamin, als er auf dem Rand eines Fensters sitzt. Er schaut hinaus in den grauen Morgen und erinnert sich an jenen Tag, an dem er versehentlich die Tür zum falschen Raum erwischte.
Benjamin ist eine Kleine Stubenfliege. Ein Prachtexemplar, wie er findet. Männlich, 5 Millimeter lang, schlank, mit weiß umrandeten Facettenaugen, die ihm ein Sichtfeld von fast 360 Grad ermöglichen. Er liebt das Gefühl, mit ruckartigen Richtungswechseln durch Zimmer zu schwirren – die Menschen nennen das „Patrouillenflug“. Benjamin macht es vor allem Spaß. Sein Lieblingsort: die weite Welt. Mal Baumkronen für den Schwarmtanz, mal der Komposthaufen hinter der Bäckerei. Seine Tage verbringt er mit Schnuppern, Surren, Erkunden. Er fliegt nicht einfach – er lebt dreidimensional.

Doch an diesem einen Dienstag passierte es. Die Tür war offen, das Licht zu schmeichelnd. Also rein. „Zack! War ich drin. Und plötzlich: Chanel Nr. 5 meets nasser Hund.“ Benjamin war in einem Hundesalon gelandet. Und was für einer. Glänzende Fliesen, goldene Föhne, pastellfarbene Wände. An den Wänden Porträts: Möpse mit Schleife, Dackel mit Dauerwelle, Windhunde in Posen wie auf Vogue-Covern. Ein Pudel wurde gerade mit einer Art Lavendelnebel besprüht. Benjamin landete auf einem Handtuchstapel und beobachtete.
Die Hunde ließen alles mit sich machen. Da wurde gebürstet, getrimmt, gefeilt. Sie schlossen die Augen beim Shampoonieren, reckten stolz ihre frisch geschorenen Schwänze in die Höhe, wenn das Parfüm kam. Und mittendrin: die Menschen. Ein Heer an Stylistinnen, die den bellenden Schönheiten alle Wünsche von der Schnauze ablasen. Benjamin war… amüsiert.
„Ich meine, versteht mich nicht falsch“, sagte er später zu einer Fliege namens Cordula, „Hygiene ist wichtig. Aber das hier war kein Waschen. Das war Religion.“ Benjamin verstand die Welt nicht mehr. Warum opferten diese Tiere Stunden ihrer kurzen Lebenszeit auf einem rotierenden Tisch, während er – ein Flieger, ein Entdecker – von einer dieser Stylistinnen mit einem nassen Waschlappen fast erschlagen wurde? „Pfui!“, rief da der Pudel mit rosa Halstuch. „Was macht dieses… Ding hier?“ „Einfach ekelhaft“, bellte ein Chihuahua mit Glitzerkragen. „Sie gehört zur Familie der Latrinenfliegen“, murmelte ein Beagle wissend. „Die legen ihre Eier in Kompost und Hundekot.“
Benjamin, der das hörte, hob den Kopf. „Na und? Wisst ihr eigentlich, wie unfassbar wichtig wir sind? Wir verwandeln Dung in Dünger. Ohne uns wäre euer hübscher Rasen da draußen ein stinkendes Schlachtfeld. Und weil’s so viel zu tun gibt, kann’s auch nicht genug von uns geben. Eine Fliege wie ich bringt innerhalb von drei Wochen sieben Generationen hervor.“ Doch niemand hörte ihm zu. Stattdessen ein beleidigter Beagle-Blick.
Benjamin flüchtete auf einen Lampenschirm. Von dort oben sah er die Welt mit anderen Augen. Wusste er doch: Diese Hunde, so gepflegt sie auch waren, lebten in einem sehr kleinen Ausschnitt der Welt. Für sie bedeutete „schön“: sauber, weich, duftend. Für Benjamin bestand der Sinn des Lebens aus: nützlich, biologisch wertvoll. Er erinnerte sich an seinen Geburtsort – einen Haufen fauliger Kartoffeln hinter einem Bio-Markt. Nicht gerade Vogue-Material, aber dort summte das Leben. Maden mit feinen Dörnchen, Puppen mit fadenförmigen Anhängseln, ständig Bewegung im Kompost. Und während er dort seine Larvenzeit verbrachte, wurde aus Abfall wieder Erde. „Kreislauf“, nannte das ein Käfer mal. „Wertschöpfung“, ein Regenwurm.
Im Salon aber wurde Wert durch Glanz definiert. Und Benjamin war nicht glänzend. Eher schimmernd. Ein feiner Unterschied. Eine Stylistin sah ihn, rief: „Iiiiiih!“ und holte eine Klatsche. Benjamin flog im Zickzack, umkreiste eine Frisierhaube, landete schließlich im Napf eines Cockerspaniels. Schweigen. Alle starrten ihn an. Benjamin starrte zurück. „Ich hab mehr Geschmacksknospen an meinen Füßen als ihr in eurer ganzen Schnauze“, sagte er schließlich. „Ich kann riechen, ob ein Apfel süß oder faul ist, ohne ihn zu beißen. Ich sehe die Welt in Mosaiken, tausend Einzelbilder pro Sekunde. Und ich kann fliegen. Ohne Leine, ohne Parfüm.“
Stille. Dann ein Niesen. Der Pudel räusperte sich. „Und trotzdem… bist du irgendwie… dreckig.“ Benjamin zuckte mit den Flügeln. „Und ihr seid irgendwie… langweilig.“ Er verließ den Salon mit einem eleganten Schlenker über die Deckenlampe, patrouillierte ein letztes Mal durchs Licht und summte hinaus in den Tag.
Später, am Komposthaufen, erzählte er seine Geschichte. Cordula fand sie großartig. Eine Motte sagte, es sei fast wie eine Parabel. Und Maria, der Marienkäfer nickte: „Zeigt eben, wie absurd unsere Maßstäbe oft sind.“ Benjamin dachte darüber nach. Vielleicht ging es gar nicht um „dreckig“ oder „sauber“. Vielleicht ging es darum, ob man erkennt, was Wesen alles beitragen – oder nur, ob sie ins Bild passen. Benjamin landete auf einem Stück Apfelschale, das in der Sonne glänzte. „Wir sollten uns wirklich mal darüber unterhalten, was der Wert eines jeden Wesens ist“, sagte er. „Ich hab da was erlebt, das mich einfach nicht loslässt.“
