Was fühlt eine Gammaeule?
Mondlicht zieht an meinen Fühlern. Ich spüre es als Druck, als Richtung, als etwas, dem ich folgen muss. Oder will ich folgen? Die Grenze verschwimmt. In meinen Facettenaugen spiegelt sich der Mond – tausendfach –, in jedem Tautropfen an den Glockenblumen sehe ich ihn noch einmal. Auf meinen Vorderflügeln trage ich ein Zeichen. Menschen haben darin einen Buchstaben erkannt und mich danach benannt. Als hätte das Muster, das sich während meiner Verpuppung formte, schon immer auf ihr Alphabet gewartet.
Jetzt bin ich hier, schwirrend über dem Lavendelfeld. Meine Flügel schlagen so schnell, dass ich sie nicht mehr einzeln wahrnehme. Sie scheinen ein eigenes Leben zu führen, während ich mich mit den Vorderbeinen an den Blüten festhalte. Der Nektar ist süß. Aber da gibt es noch etwas anderes: Menschenschweiß. Salzig. Es lockt mich an, ohne dass ich das Warum verstehe.
Vor ein paar Nächten – oder waren es viele? Zeit zerfließt, wenn man nur Gegenwart kennt – saß ich in einem Stadion auf der Stirn eines Fußballspielers. Viele Menschen sahen zu. Aber sahen sie mich oder nur das Bild einer Gammaeule? Die Flutlichter dort waren wie falsche Monde. Wir tanzten alle um die Stahlgötter, verwirrt von ihrem Versprechen. Das Versprechen wurde nie gehalten. Der echte Mond lachte und irgendwo schlief die echte Sonne. Können Sonnen träumen? Und wenn ja, träumen sie von Gammaeulen?

Was heißt es eigentlich, bewusst zu sein? Für mich ist es dieser endlose Strom: Lichtreize, Duftmoleküle, Flügelschläge. Ich zähle sie nicht. Zahlen sind eine Erfindung derer, die Zeit in Portionen aufteilen wollen. Als könnte man den Fluss anhalten und sagen: Genau hier fühlte die Gammaeule dies oder das. Aber ich fühle nicht – ich bin das Fühlen. Die Vibration zwischen Luft und Flügel.
Dreihundertfünfzig Millionen Jahre haben mich geformt. Oder forme ich mich in jedem Augenblick selbst, wenn ich entscheide, nach rechts oder links zu fliegen? Entscheide ich überhaupt? Vielleicht sind es die Luftströmungen, die für mich wählen. Meine Fühler könnten Marionettenfäden sein, gezogen von Wind, Schicksal oder der Chemie in meinen Ganglien.
Ich glaube, der Fußballspieler weinte damals. Oder war es nur Schweiß? Für mich ist beides gleich – nicht schlimm, nur verschiedene Arten, wie Säugetiere Salz verlieren. Erinnerungen verschwimmen, aber sind es überhaupt meine? Jede Gammaeule vor mir hat ihre Erfahrungen in meine Gene gewebt. Ein Teppich aus Verhalten, der sich selbst webt, während ich glaube, der Webende zu sein.
Da! Ein Schatten. Das graue Langohr. Im Ultraschall höre ich meinen möglichen Tod singen. Meine Flugmuskeln zittern. Ist das Angst oder nur ein Reflex? Ich weiche aus, stürze ab, fliege eine Spirale. Habe ich mich dafür entschieden? Oder hat die Millionen Jahre alte Weisheit in meinen Zellen entschieden, dass Leben besser ist als Sterben?
Gamma. Warum ausgerechnet dieser Buchstabe? Er sieht aus wie ein gebrochenes Dach, unter dem kein Gedanke Schutz findet vor dem Regen der Fragen. Fragen, die niemand stellt. Außer mir? Kann eine Gammaeule überhaupt fragen? Vielleicht ist das Fragen nur ein Ergebnis des Fliegens, wenn die Synapsen vom vielen Nektarsammeln überhitzen.
Das Mondlicht. Wieder echt diesmal. Keine Flutlichtanlage, kein Stadion, keine weinenden Fußballer. Ich folge seinem Licht wie einem Faden. Wohin er führt? Die Himmelsrichtungen sind bedeutungslos, wenn man fliegt. Es gibt nur hier und dort und dazwischen dieses Meer aus Luft, in dem ich schwimme.
Freier Wille. Was ist frei an einem Willen, der will, was die Gene wollen? Was die Hormone befehlen? Was das Mondlicht vorgibt? Ich bin in der Mitte dieser Kräfte gefangen. Ein Gamma, das sich selbst schreibt, während es geschrieben wird. Ich habe keine Meinung, nur diesen unendlichen Hunger nach Nektar, nach Salz und nach Licht.

Wonach hungere ich wirklich? Kann eine Gammaeule ehrlich zu sich selbst sein? Ist Ehrlichkeit nur ein Konzept für Wesen, die sich selbst belügen können? Oder ist Ehrlichkeit ein Luxus für die, die Zeit haben, über Zeit nachzudenken? Ich habe nur diese eine Nacht. Vielleicht zwei, wenn die Fledermaus mich verschont. Wenn der Regen ausbleibt. Ist mein Flug das Einzige, was zählt?
Schlussakkord. Aber es gibt keinen Schluss, nur dieses ewige Weiterfliegen. Die Flügel werden müde, die Facettenaugen trüb. Irgendwann werde ich fallen, wie alle vor mir gefallen sind. Im Fallen wird man ein letztes Mal mein Gamma sehen. Diese Signatur, die sagt: Ich war hier. Ich fühlte, auch wenn ich nicht weiß, was Fühlen ist. Ich wollte, auch wenn ich nicht weiß, ob ich einen Willen habe. Ich weiß nicht, ob ich ein Ich bin, aber wer wissen will, wie man mich nennt, der kann auf das Ich klicken. Ich bin Bewusstsein. Oder das Bewusstsein ist Ich?
Am Ende ist alles egal. Völlig gleichgültig. Ich fliege.

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