Das Paradox der Sicherheit
Es treffen sich ein Kater und eine Katze. Und eine Spinne lauscht heimlich mit. Satori, der Kater, sitzt hinter einer Glasscheibe und betrachtet skeptisch den Balkon. Die Katze, die je nach Tageszeit Trikolore, Dreifarbchen oder Glückspelz heißt, liegt draußen auf den warmen Steinplatten und putzt sich das dreifarbige Fell. Zwischen ihnen: eine Fensterscheibe, drei Zentimeter dick, aber eigentlich eine ganze Welt.
Theodora, die heimliche Lauscherin, zieht sich tiefer in ihre Ecke zurück. Sie ist eine Gartenkreuzspinne. Acht Beine, acht Augen, ein Körper wie aus braunem Samt und Beinhaar so fein, dass es Vibrationen aus drei Metern Entfernung spürt. Gartenkreuzspinne – der Name sagt es schon: Garten. Draußen. Zwischen Rosenbüschen und Regentropfen. Aber Theodora lebt seit vier Jahren in Satoris Wohnung. Genauer: in der Ecke zwischen dem Bücherregal voller Zen-Ratgeber und Manga-Krimis, direkt über der Heizung, wo sich ein perfektes Dreieck aus Spinnweben spannt. Genau dort, wo Satori am liebsten schläft, eingekuschelt zwischen „Beginner’s Mind“ und einem Band von „Detective Conan“. Sie kam durch ein offenes Fenster, an einem Herbstabend, als sie eigentlich nur Schutz vor dem ersten Frost suchte. Dann blieb sie. Die Wärme, die Ruhe, die Sicherheit – es war so viel einfacher als draußen.
„Du lebst im Gefängnis“, sagt die Glückskatze von draußen. „Trikolore“ heute, weil die Nachbarin sie gerade so genannt hat, kurz nachdem sie deren Kater Brutus wieder mal die Meinung gegeigt hatte. Satori, zur Hälfte Heilige Birma, zur anderen Hälfte niemand-weiß-es-so-genau, mit seinen eisblauen Augen, schnaubt verächtlich. „Ich lebe in Sicherheit. Das ist ein Unterschied.“

„Welche Sicherheit?“, fragt Trikolore und ihre Augen blitzen verschmitzt. „Ich bringe meinen Menschen Geschenke. Lebendige Geschenke. Gestern eine Feldmaus, vorgestern eine Spitzmaus – die mit der spitzen Schnauze, die so schrill kreischt. Ich lege sie im Wohnzimmer ab, maunze einmal laut, damit auch wirklich alle aufmerksam werden, und dann?“ Sie grinst. „Dann lege ich mich gemütlich auf die Seite und schaue mir das Schauspiel an. Wie sie kreischen, mit Besen fuchteln, über Möbel klettern. Herrlich! Fehlt nur noch eine Tüte Popcorn. Und nebenbei hab ich dem fetten Felix von Nummer 12 klargemacht, dass der Hinterhof mir gehört. Du? Du bekommst Trockenfutter aus der Tüte.“
„Bio-Trockenfutter“, korrigiert Satori. „Lachsgeschmack. Getreidefrei. Hypoallergen.“ Trikolore lacht ein knurrendes Katzenlachen. „Ich hatte gestern etwas, das die Menschen Quetsch-Pastete nennen. Pudding mit Käse. Aus dem Napf von Bello nebenan. War herrlich eklig. Musste mir danach zwar mit Bello anlegen, aber das war’s wert.“
Theodora kennt beide Welten. Sie ist die Grenzgängerin dieser Wohnung – oder sollte es zumindest sein. Eigentlich gehört sie nach draußen, zwischen Morgentau und Blütenstaub, wo ihre Artgenossen kunstvolle Radnetze zwischen Zweigen spannen. Manchmal, wenn Satori zwischen seinen Büchern döst, wagt sich Theodora aus ihrer Ecke. Dann erkundet sie die sterile Welt des Wohnungskaters: Den zwei Meter hohen Katzenbaum aus Sisal, der wie ein plüschiger Wolkenkratzer im Wohnzimmer thront – Satori nutzt davon nur die unterste Ebene. Die Wasserfontäne mit Filter. Das beheizte Körbchen, das Satori ignoriert, weil Bücher wärmer sind. Alles sauber, alles kontrolliert, alles vorhersehbar. Keine Überraschungen. Keine Gefahren. Und leider wenig… Fliegen.

Das ist Theodoras Problem. In vier Jahren hat sie genau siebzehn Fliegen gefangen. Siebzehn! Ihre Cousine Brunhilde, die im Gartenschuppen lebte – dort, wo auch Theodora eigentlich hingehört – fing so viele an einem guten Nachmittag. Aber Brunhilde wurde letzten Winter von einem Vogel gefressen. Theodora lebt noch. Das muss doch was bedeuten, oder?
„Weißt du“, sagt Trikolore und leckt sich eine Pfote, „gestern bin ich einem Fuchs begegnet.“ Satori richtet sich auf, sein verschiedenfarbiges Augenpaar weitet sich. „Einem echten Fuchs?“
„Gibt’s auch unechte?“
„Und du lebst noch?“
„Offensichtlich. Ich bin auf einen Baum geklettert. Der Fuchs nicht. Ende der Geschichte. Wobei die Russisch-Blau von gegenüber behauptet, ich hätte vor Angst geschrien wie ein Kätzchen. Lüge natürlich. Wir sind seitdem verfeindet.“
„Klingt nach einer haarigen Angelegenheit“, murmelt Satori und kichert.
Theodora denkt an Bäume. An Feinde. An Kämpfe. Sie hat noch nie gekämpft, nur beobachtet. Beobachtet, wie Satori morgens seine Krallen am Kratzbaum schärft – oder besser gesagt: am untersten Brett des zwei Meter hohen Ungetüms, das er gekauft bekommen hat und das er „Wolkenkratzer der verpassten Gelegenheiten“ nennt. Beobachtet, wie er danach zu seinem Lieblingsplatz zwischen den Büchern tapst, sich einmal im Kreis dreht und dann einschläft.

„Ich verstehe dich nicht“, sagt Satori zu Trikolore. „Du könntest ein Zuhause haben. Wärme. Sicherheit. Regelmäßige Mahlzeiten. Keine Revierkämpfe.“
„Ich habe ein Zuhause“, entgegnet Trikolore und ihre drei Farben schimmern stolz in der Sonne. „Mehrere sogar. Familie Müller füttert mich morgens, nachdem ich mit deren Perserkater fertig bin. Die alte Dame von Nummer 7 mittags, wenn ich es schaffe, an ihrem Terrier vorbeizukommen. Und abends schaue ich beim Dönerladen vorbei, wo ich mir den besten Platz gegen drei Straßenkater erkämpft habe. Und dazwischen…“ Sie macht eine ausladende Geste mit der Pfote. „Dazwischen gehört mir die ganze Welt. Jeder Quadratmeter erkämpft.“
„Die ganze gefährliche Welt“, verbessert Satori und sein Birma-Erbe lässt ihn würdevoll erscheinen. „Die ganze lebendige Welt“, kontert Trikolore und zeigt ihre Kampfnarbe am Ohr.
Theodora hat vor drei Tagen etwas Merkwürdiges erlebt. Eine kleine Fruchtfliege hatte sich in die Wohnung verirrt. Statt sie zu fangen, hatte Theodora sie beobachtet. Die Fliege war panisch, flog immer wieder gegen die Fensterscheibe, suchte verzweifelt einen Ausweg. Nach zwei Stunden war sie tot – erschöpft, dehydriert, gefangen in der Perfektion. Theodora hatte sie nicht mal gefressen. Es fühlte sich falsch an, etwas zu essen, das an Sicherheit gestorben war. Sie dachte an sich selbst – eine Gartenspinne, die keinen Garten mehr kennt.
„Zeig mir dein Netz“, sagt Trikolore plötzlich. Direkt. Ohne Umschweife. So wie sie auch ihre Revierkämpfe angeht. Theodora zuckt zusammen. Die Spinne wurde entdeckt. „Du siehst mich?“
„Natürlich. Du bist ja auch nicht gerade klein. Für eine Hausspinne. Und ich bin eine Glückskatze – wir sehen alles. Hab sogar mal einen Geist gesehen. War aber nur die weiße Katze vom Nachbarn im Mondlicht. Trotzdem – wir haben den siebten Sinn. Oder wie mein Kumpel Tiger sagt: Katz-Intuition.“ Ein selbstgefälliges Grinsen.
„Gartenkreuzspinne“, korrigiert Theodora automatisch. „Eigentlich sollte ich draußen leben.“ Theodora führt die beiden zu ihrem Netz. Es ist, objektiv betrachtet, ein Kunstwerk. Perfekte Winkel, gleichmäßige Abstände, die ideale Spannung. Ein Netz, das in keinem Lehrbuch besser sein könnte. Aber es fehlt ihm etwas – der Morgentau, der Pollenstaub, die kleinen Blätter, die sich verfangen. Die Unperfektion der Natur. Trikolore betrachtet es lange.
„Es ist tot“, sagt sie schließlich. „Tot?“ Theodora ist empört. „Es ist perfekt!“
„Eben. Wann hast du es zuletzt erneuert?“ Theodora überlegt. „Vor… zwei Monaten?“
„Siehst du. Meine Beute kämpft. Meine Wege ändern sich. Jeden Tag ein neuer Gegner – heute Morgen die Siamkatze, gestern der Bernhardiner, morgen wahrscheinlich wieder Brutus. Dein Netz bleibt gleich, weil sich hier drin nichts ändert. Draußen müsstest du es jeden Tag neu spannen – Wind, Regen, Beute würden es zerstören.“
Satori springt elegant auf die Fensterbank, seine geschmeidige Natur zeigt sich in der ungewöhnlichen Geschmeidigkeit. „Veränderung ist überbewertet. Stabilität ist das, was zählt.“
Theodora klettert langsam ihre Wand hoch, vorbei an den Buchrücken. Von hier oben sieht sie beide Katzen. Der eine, halb Birma, halb Straße, aber ganz Stubentiger, lebt zwischen Philosophie und Fiktion. Die andere, dreifarbig und kampferprobt, trägt jeden Konflikt der Nachbarschaft in ihrem Fell. Beide haben recht. Beide haben unrecht. Und sie selbst? Eine Gartenspinne, die den Garten gegen die Heizung eingetauscht hat.
„Wisst ihr“, sagt Theodora, „ich glaube, das Problem ist nicht Sicherheit oder Freiheit. Das Problem ist die Illusion, man müsste sich entscheiden.“ Trikolore legt den Kopf schief, eine ihrer drei Farben leuchtet in der Sonne. „Wie meinst du das?“
„Naja“, Theodora beginnt ein neues Netz zu spinnen. „Brunhilde ist tot, aber sie hat gelebt. Ich lebe, aber habe ich gelebt? Du, Trikolore, kämpfst jeden Tag, aber wofür? Und du, Satori, suchst Entspannung auf Büchern. Wir alle haben uns entschieden – ich für die warme Ecke statt den kalten Garten, du für die Straße, er für die Wohnung. Wir streiten über Gegensätze, die vielleicht gar keine sind.“
„Philosophische Spinnen“, murmelt Trikolore. „Noch dazu welche, die eigentlich in den Garten gehören.“ Aber sie bleibt. Und Satori bleibt auch. Sie beobachten, wie Theodora ihr neues Netz webt. Es ist anders als das alte. Unregelmäßiger.
Vielleicht ein bisschen mehr wie die Netze, die sie draußen weben würde. Wenn sie sich trauen würde. Aber das ist der Punkt, denkt Theodora, während sie den letzten Faden zieht: Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst. Es ist die Entscheidung, trotz der Angst zu handeln. Und vielleicht beginnt die größte Freiheit genau dort, wo man die eigenen Grenzen akzeptiert – und dann sanft an ihnen rüttelt. Wie ein Spinnennetz im Wind, das biegt, aber nicht bricht. Morgen, denkt sie, morgen wage ich mich vielleicht bis zum Fensterbrett.
Ein kleiner Schritt für eine Spinne, aber ein großer Sprung für eine Gartenkreuzspinne ohne Garten.