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Der letzte Mondflug

Max weiß, dass er sterben wird. Nicht sofort, nicht in der nächsten Stunde, aber bald. Seine Flügel werden schwerer, seine Augen trüber, und wenn er sich nach jedem Flug unter der alten Linde versteckt, spürt er, wie die Kälte in seinen Gliedern bleibt. Der frische Geruch von Holz und feuchtem Moos, der hier im Gerberei-Garten zwischen den Steinen und Beeten hängt, kann die Kälte nicht vertreiben. Für einen Eulenfalter ist das ein untrügliches Zeichen. Sechzig Tage hat er gelebt – länger als die meisten seiner Art. Länger, als er gehofft hatte. Aber noch nicht lang genug für das, was er vorhat.

„Ich fliege zum Mond“, sagt Max zu Carmen. Die Kanarenspringerin sitzt, wie fast jeden Abend, auf dem Ast direkt über seinem Versteck und putzt ihre Vorderbeine. Sie ist klein, aber ihre großen Augen verpassen nichts. Seit zwei Monaten beobachtet sie, wie Max jede Nacht seine Kreise zieht, immer höher, immer mutiger, als könnte er tatsächlich den Himmel erreichen. Sie leben beide hier, zwischen den Beeten, an einem Ort, wo früher einmal Häute zu Leder wurden.

„Der Mond ist über 384.000 Kilometer entfernt“, antwortet Carmen rechthaberisch und etwas trocken. „Du schaffst höchstens die paar Meter zur nächsten Baumkrone.“ Carmen ist eine Springspinne – präzise, logisch. Trotzdem mag sie den alten Falter. Vielleicht gerade deshalb.

Carmen, die Kanarenspringerin

Max breitet seine Flügel aus. Sie schimmern graubraun im letzten Dämmerlicht, durchzogen von feinen Linien und Punkten – ein Muster, das aussieht wie Hieroglyphen. Als Eulenfalter gehört er zu einer riesigen Familie, hat ihm mal eine Motte erzählt – so viele Arten, dass die Menschen noch immer neue entdecken. Max findet das beruhigend. In einer so großen Familie ist Platz für verrückte Träume.

„Ich weiß, dass ich ihn nicht erreiche“, sagt er. „Aber vielleicht komme ich näher als je zuvor. Vielleicht… reicht das.“

Carmen springt mit einem winzigen Satz näher. Bei Springspinnen ist Bewegung Kommunikation, jeder Hüpfer hat Bedeutung. Dieser bedeutet: Ich höre zu.

Der Eulenfalter erzählt ihr von seinem ersten Mondflug, damals, als Jungtier. Wie er aus seiner Puppe geschlüpft war, völlig orientierungslos in der Dunkelheit, und dann dieses Licht gesehen hatte – silbrig, rund, unerreichbar schön.

Manchmal sah er Schatten darin, die aussahen wie ein Gesicht. Die Menschen nennen das den Mann im Mond – hatte ihm einmal eine Fledermaus erzählt. Max fand das tröstlich – jemand, der von dort oben auf alle herabblickte. Seither flog er jede klare Nacht in seine Richtung. Nicht, weil er sich etwas davon versprach. Sondern weil es das Richtige war. Das Einzige, was sich richtig anfühlte.

„Wir sind Nachtwesen“, erklärt er Carmen, „wir gehören zur Dunkelheit. Aber der Mond… der macht die Dunkelheit lebendig.“

Die Spinne ist nachdenklich. Sie kennt die Dunkelheit auch, jagt in ihr, lebt von ihr. Aber sie hat nie daran gedacht, dass Mondlicht sie verwandeln könnte.

An diesem Abend ist der Mond fast voll. Max spürt, wie seine Muskeln vibrieren – eine alte Erinnerung an Kraft, die längst schwächer geworden ist. Er hebt ab, zunächst vorsichtig, dann mit der Eleganz von sechzig Tagen Übung. Carmen springt auf einen höheren Ast, um ihm zu folgen.

Sie beobachtet, wie Max seine Kreise zieht, immer weiter hinauf. Über die Holunderbüsche, über die Linde, über das frühere Gerbereigebäude mit den leeren Fenstern. In der Ferne hört sie das Summen der Autos, sieht die orangenen Lichter der Stadt. Aber hier, in diesem vergessenen Garten zwischen überwucherten Steintrögen, ist nur der Mond. Und Max, der ihm entgegenfliegt.

„Warte“, ruft Carmen plötzlich. Sie springt von Ast zu Ast, folgt Max in die Höhe.

Er hört sie, aber er fliegt weiter. Seine Flügel arbeiten schwerer, seine Atemwege sind eng. Trotzdem: Noch nie war er so hoch. Noch nie war der Mond so nah.

Carmen erreicht die Baumkrone und springt ab. Einen Moment lang fliegt sie mit Max – zwei winzige Geschöpfe im dunklen Nichts zwischen Erde und Himmel. Dann landet sie auf seinem Rücken.

„Carmen!“, ruft Max erschrocken. „Du bist viel zu schwer für…“

„Ich bin federleicht“, unterbricht sie. „Du schaffst das.“

Sie hat recht. Gemeinsam fliegen sie höher, als Max alleine je gekommen wäre. Der Wind trägt sie, der Mond zieht sie, und für einen Moment – nur für einen – fühlt es sich an, als könnten sie tatsächlich die Schwerkraft überwinden.

Aber dann spürt Max, wie seine Kraft schwindet. Seine Flügel zittern, seine Orientierung schwankt. Er beginnt zu sinken, langsam erst, dann schneller.

„Ist schon gut“, flüstert Carmen. „Lass los.“

Max hört auf zu kämpfen. Sie gleiten hinab, sanft wie ein welkes Blatt, und landen auf dem weichen Holunderstrauch. Der Mond scheint ihnen ins Gesicht.

„Denkst du, ich habe ihn berührt?“, fragt Max.

Carmen schaut hinauf. Der Mond ist derselbe wie immer – fern, kühl, unberührbar. Aber in Max Blick sieht sie etwas anderes.

„Ja“, sagt sie. „Du hast ihn berührt.“

Er schließt die Augen. Er ist müde, aber es ist eine gute Müdigkeit. Die Müdigkeit von jemandem, der angekommen ist. „Danke“, flüstert er.

Carmen bleibt bei ihm, bis zum Morgengrauen. Als die ersten Sonnenstrahlen den Garten erwärmen, ist Max eingeschlafen. Für immer.

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