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Die Spinne und die Altbauwohnung

Elio hatte genug von den Fehden und Kämpfen der Natur. Wer glaubt, im Freien, in den Gräsern, Wiesen und Büschen sei ein friedliches Leben möglich, der hat noch nie mit 4 Millimetern Körperlänge um dieses Leben gekämpft. Für eine Zeit hält man das aus, aber hin und wieder braucht es eine Auszeit. Die männliche Kürbisspinne suchte genau das, einen Kurzurlaub, einen sicheren Rückzug. Elio war schon immer ein geschickter Jäger gewesen, konnte seine Netze für die tägliche Jagd verwenden und sich dabei auf seine Farbe als Tarnung verlassen. Wegen ihrer orange-grünen Färbung wurde die Kürbisspinne einst benannt – trotzdem war Halloween für Elio noch nie von Interesse gewesen. Fest steht: Das raue Leben in der Natur hatte ihn ermüdet. Jede Jagd, jeder Kampf kosteten Energie und Kraft, und die ständige Gefahr, selbst zur Beute zu werden, nagte an seinen Nerven. Nun also bitte Ruhe, ein paar friedliche Wochen, ohne die ständige Bedrohung; die Chance, einfach durchzuatmen. Elio beschloss, illegaler Untermieter einer Altbauwohnung in Leipzig zu werden. Kein Mietvertrag, nicht mal eine Duldung, ein Leben auf wenigen Quadratzentimetern. Mit etwas Glück würden die Bewohner gar nicht erst dahinterkommen, dass Elio dort die Seele baumeln lässt.

Kürbisspinne (Lat. „Araniella cucurbitina“)

Sein Einzug verlief unauffällig. Durch einen kleinen Spalt im Fensterrahmen gelangte er in die liebevoll eingerichtete Wohnung. Sie lag im zweiten Stock und typisch für Leipzig in einem alten Gründerzeithaus, knarzende Dielen und hohe Decken inklusive. Hohe Decken bedeutet Sicherheit, es sei denn, die Menschen hätten irgendwo eine ausreichend lange Leiter. Elio suchte sich seinen Platz sorgfältig aus: in der linken Ecke des Wohnzimmers, verborgen hinter einer Gardinenstange, in der Nähe einer warmen, leicht summenden Lampe. Hier konnte er ungestört beobachten und entspannen. Bei Gefahr war es leicht, sich hinter einem der dünnen Stuckelemente zu verstecken. So lässt sich’s aushalten, dachte er, und prompt verschlief er den restlichen Tag.

Die Wohnung, in der sich Elios Refugium befand, gehörte der Familie Berger. Das tägliche Treiben der Familie wurde bald zu Elios Hobby. Denn der menschliche Alltag war viel zu interessant, um ihn zu ignorieren. Da gab es Eva, die Mutter. Sie hatte ihre blonden Haare oft zu einem Zopf gebunden. Stefan, der Vater, war ein ruhiger Mann mit einer kleinen Brille, die ihm oft von der Nase rutschte. Ihre beiden Kinder, Lena und Ben, waren acht und elf Jahre alt und stritten sich schon am ersten Morgen darum, wer zuerst ins Badezimmer durfte. Während des Tages war die Wohnung meist verlassen, da ruhte sich Elio in seiner Ecke aus, genoss die Wärme der Wohnung und lauschte manchmal den Geräuschen auf der Straße. Aber abends, wenn sich die Familie zum Essen an den großen Holztisch setzte, spähte er heimlich, aber interessiert von oben auf sie herab. Er bemerkte schnell, dass nicht nur sein Leben im Freien eine Arena für tägliche Kämpfe war. Bei diesen Menschen ging es zwar nicht ums Überleben, aber die Probleme ihres Alltags waren nicht zu übersehen.

Wenn sich Eva und Stefan stritten, was oft der Fall war, machten sie das leise. Fast so, als würden sie sich schämen, wenn ihre Kinder etwas davon bemerkten. Es ging um die Herausforderungen ihres Lebens, all das, was sie Tag für Tag erschöpfte; ihre Jobs, die Hausarbeiten und Noten der Kinder, das Geld. Lena, die Tochter, fühlte sich von ihren Eltern oft nicht verstanden und ihr Bruder versteckte sich hinter seinem Tablet. Die Kürbisspinne sah sich das an, hing, sobald alleine, an einem Faden von der Decke und machte sich Gedanken. Die Bergers waren nicht von Käfern und Hornissen umgeben, dafür aber von Spannung, Angst und vielen Missverständnissen.

Leipzig

Kürbisspinnen sind für ihre kunstvollen Netze bekannt. Oft erreichen sie einen Durchmesser von rund 10 Zentimetern. Statt sich aber zu verstecken, bleiben Kürbisspinnen sichtbar mitten im Netz – ihre Körperfärbung sorgt dafür, dass sie für Beuteinsekten nahezu unsichtbar bleiben. Elio konnte seit seinen frühesten Erinnerungen Fäden ziehen, mit so viel Übung und Präzision brauchte das keine große Mühe mehr. Eines Nachmittags, als er an die Probleme der Menschen dachte, webte er, völlig in sich versunken, mit dünnen Fäden ein filigranes Herz an die Decke. Aber, anstatt seine Kritzelei wie so oft davor wieder verschwinden zu lassen, vergaß Elio das Herz. Erst einige Stunden später, als Eva abends den Tisch deckte, fiel es ihm wieder ein. Doch da war es bereits zu spät.

Was folgte, waren viele Minuten der Angst. Würden ihn die Menschen entdecken, könnte das schnell gefährlich werden. Elio wäre gezwungen, seine Sachen zu packen. Oder sich, tagein, tagaus hinter dem Stuck zu verstecken. Nach mehr als einer halben Stunde – das Abendessen war vorbei und die Bergers saßen noch zu Tisch – schaute Ben gedankenverloren nach oben, genau in die Richtung von Elios verstecktem Winkel. „Lena, guck mal! Da oben an der Decke!“, rief er aufgeregt und deutete mit dem Finger nach oben. Lena seufzte genervt, folgte dann aber dem Finger ihres Bruders. Ihr Gesicht hellte sich sofort auf. „Das sieht ja aus wie ein Herz. Wer hat das gemacht?“, fragte sie staunend. Elio hatte sich zusammengekauert und schüchtern schaute er die Kinder aus seiner Ecke hinter der Gardinenstange an. Ben und Lena setzten sich auf den Boden unter das gewebte Herz, das im Licht der Lampe silbrig schimmerte. Zum ersten Mal seit Tagen unterhielten sich die Geschwister freundlich und ohne Streit. Lena dachte, das Herz sei ein Zeichen, dass bald etwas Gutes passieren würde, und Ben war überzeugt, es sei eine geheime Nachricht.

Leipzig

Elio fühlte sich plötzlich warm in seiner Brust. Das kleine Herz aus seinen Fäden hatte eine komische Wirkung entfaltet und damit hätte er nie gerechnet. In der nächsten Nacht, während alle schliefen, webte Elio mit großer Geduld einen sternförmigen Umriss an die Decke, genau neben dem Herz. Der Stern war am Ende noch feiner gearbeitet als das Herz, und seine Linien waren symmetrisch. Der Morgen kam, und als die Kinder aus ihrem Zimmer liefen, fiel ihr Blick wieder an die Decke. „Ben! Sieh mal, da ist noch etwas Neues! Ein Stern!“, rief Lena begeistert. Die beiden rannten zu ihren Eltern. „Habt ihr das gemacht?“, fragte Stefan und sah dann seine Frau fragend an. Die Zeichen an der Decke hatten eine Wirkung, die niemand leugnen konnte. Von diesem Moment an wurden sie für Elio zu seiner speziellen Aufgabe, einer geheimen Mission. Jeden Tag arbeitete er an neuen Motiven, und – weil er in Sicherheit seinem Werk nachgehen wollte – immer während der Nacht, vorsichtig und still. Und die Kinder warteten morgens gespannt auf eine neue Figur.

Die Kürbisspinne webte hintereinander einen kleinen Mond, eine Schnecken-Spirale, und danach das Bild einer Blume, das so fein und detailliert war, dass das Zittern der dünnen Fäden an Pflanzen im Wind denken ließ. Nachdem Elio eine Woche lang jede Nacht eine neue Kreation geschaffen hatte, bemerkte er, dass sich auch Eva und Stefan veränderten. Die beiden setzten sich abends zu ihren Kindern an den Tisch und begannen, gemeinsam über die Zeichen zu rätseln. Ihre Stimmen waren weicher und obwohl Elio nicht jedes Wort verstand, klangen ihre Sätze sehr viel sanfter als davor.

Auf all das war Elio stolz. Nicht nur auf seine Webkunst, sondern vor allem auf das, was sie bei den Menschen bewirkte. Die Kürbisspinne fühlte sich nicht mehr als ein heimlicher Untermieter. War er inzwischen so etwas wie ein unsichtbarer Freund? Ein leiser Beobachter oder heimlicher Helfer? Klar, er hatte genug gehabt von den Problemen in der Natur; aber es war mehr als Ruhe und Entspannung, die er nun gefunden hatte. Mehr als ein stilles Plätzchen, wo er sicher war. Es verstrichen noch einige Wochen und Elio dachte nicht daran, mit seinen Arbeiten aufzuhören; sie wurden noch kunstvoller und komplexer. Seine Fäden wurden dichter, und manchmal reflektierten sie das Licht der Lampe und erhellten die Decke des Wohnzimmers. Jeden Morgen warteten die Bergers gespannt auf sein neuestes Werk. Aber die Spinne wusste, dass ihr Aufenthalt nicht ewig dauern durfte. Irgendwann, es war unausweichlich, würde man Elio entdecken. Und die Menschen fürchten sich vor Spinnen, egal wie interessant ihre Netze sind. Wollte er leben, musste er weiterziehen. Elio bereitete sich darauf vor, in die Natur zurückzukehren.

In seiner letzten Nacht arbeitete er an seinem größten Werk. Elio webte ein Netz, das einiges mehr war als ein einfaches Motiv, etwas, das sich nicht so einfach mit Worten beschreiben lässt. Es war, als hätte er all die Dinge, die er während seiner Zeit bei den Bergers gesehen hatte, in seine Spinnfäden eingefangen. Er verwob Erinnerungen und Augenblicke, einzelne Blicke und Gesten, die Hoffnungen und Träume der Bergers in eine Geschichte aus dünnen Fäden; so zart, dass selbst seine vorsichtigen Schritte sie zum Zittern brachte. Doch was genau darin verborgen war, erkannte am nächsten Morgen nur die Familie selbst. Es war ihre Geschichte. Als draußen die Morgensonne die Straßen von Leipzig erhellte, schlich sich Elio vorsichtig durch den dünnen Spalt im Fensterrahmen aus der Wohnung. Elios Auszeit war kein erholsamer Urlaub gewesen. Er hatte eine Mission gefunden. Und diese hat ihm selbst viel Mut gegeben, für seine Rückkehr in die raue und oft wilde Natur.

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