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Systemrelevant

An diesem warmen Junimorgen lerne ich eine wichtige Lektion über die Welt. Ich bin elf Wochen alt, heiße Max und bin ein Golden Retriever Welpe. Während ich durch den Garten tappe, noch taufrisch vom Morgenschlaf und voller Neugier auf alles Neue, dringt ein tiefes, vibrierendes Brummen an meine Ohren. Das Geräusch ist anders als alles, was ich bisher gehört habe - weder das sanfte Summen der Klimaanlage noch das vertraute Brummen des Rasenmähers.

Über mir schwebt etwas Faszinierendes: Eine Hummel, gedrungen und pelzig, gelb-schwarz gestreift wie ein winziger Tiger der Lüfte. Ihr Körper wirkt viel zu schwer für die zarten, durchscheinenden Flügel, die in rasender Geschwindigkeit schlagen. Mit einem hörbaren Seufzer landet sie schwer auf einer der großen Sonnenblumen.

„Bist du ein Spielzeug?“, frage ich neugierig und wedle mit meinem flauschigen Schwanz.

Gartenhummel

„Spielzeug?“ Die Hummel schnaubt hörbar durch ihre winzigen Nasenlöcher.

„Junger Herr, ich sollte mich wohl erstmal richtig vorstellen. Mein Name ist Herbert Bronkowski, Arbeiter-Hummel der Bombus terrestris-Familie, Kolonie 7, Sektor Nordgarten. Ich bin 23 Tage alt und in der Blütensaison tätig. Und du bist?”

Ich setze mich in meine beste Sitz-Position und lege den Kopf schief. „Ich bin Max! Einfach nur Max. Ich wohne hier im Haus mit meiner Familie. Das ist mein erster richtiger Sommer!“ Ich wedele stolz mit dem Schwanz. „Machst du richtige Pausen? Wie meine Familie bei der Arbeit?“

Herbert wischt sich mit einem Vorderbein über die Stirn. „Fünf Minuten höchstens, wenn überhaupt. Ich bin seit fünf Uhr morgens auf den Flügeln. Sieh dir das an.“ Er deutet stolz, aber auch erschöpft auf die prallen gelben Säckchen an seinen Hinterbeinen. „Das hier ist bereits Blüte 37 für heute, und ich habe noch 23 vor der Mittagspause. 47 Blüten besucht, und meine Pollenhöschen platzen bald. Jeder Flug eine Präzisionslandung, jede Blüte ein kleines Wunder der Natur.“ „Ich arbeite auch“, erkläre ich ernst. „Heute Morgen habe ich gelernt, nicht auf den Teppich zu pinkeln. Und gestern durfte ich eine ganze Stunde lang neue Kommandos üben.“

Herbert starrt mich mit seinen großen Facettenaugen ungläubig an. Jedes Auge besteht aus Hunderten von Einzelaugen, die mir wie winzige Kaleidoskope erscheinen. „Du schläfst nach dem Frühstück, stimmt’s?“

„Natürlich! Zuhause sagen sie, Welpen brauchen 18 Stunden Schlaf am Tag. Und nach dem Mittagessen mache ich auch ein Nickerchen, und nachmittags…“

„ICH BIN SEIT FÜNF UHR MORGENS UNUNTERBROCHEN AUF DEN FLÜGELN!“ Herbert vibriert vor Empörung, und dabei rieseln Pollen wie goldener Staub von seinem Körper. „14 Stunden täglich, bei jedem Wetter. Wenn ich keine 60 Blüten pro Tag schaffe, wenn meine Quote nicht stimmt, dann gefährde ich das gesamte Ökosystem. Verstehst du das? Ohne uns Hummeln keine Bestäubung, ohne Bestäubung keine Samen, ohne Samen keine neuen Pflanzen, ohne Pflanzen keine Nahrung für andere Tiere. Wir sind das unsichtbare Fundament des Lebens. Systemrelevant!“

Ich lausche fasziniert. „Was bekommt ihr denn dafür? Meine Familie bekommt Geld für ihre Arbeit.“

Herbert lacht bitter, ein trockenes Summen. „Geld? Die Ehre, das System am Laufen zu halten, das ist unser Lohn. Während Haustiere den ganzen Tag spielen und schlafen, arbeiten wir uns buchstäblich die Flügel wund. Schau sie dir an!“ Er spreizt seine Flügel - sie sind ausgefranst an den Rändern, durchscheinend wie Pergament, von feinen Rissen durchzogen, die Spuren unzähliger Flugstunden.

„Aber das ist doch unfair!“, protestiere ich, und mein Welpeninstinkt für Gerechtigkeit erwacht.

„Unfair?“ Herbert krabbelt methodisch tiefer in die Sonnenblüte hinein, sein Rüssel verschwindet vollständig im Blütenkopf. „Wir fliegen bei Temperaturen von nur zwei Grad Celsius, da liegen die Bienen noch starr in ihren Stöcken. Unser Körper kann Wärme erzeugen durch Muskelzittern - eine biologische Heizung. Wir bestäuben durch spezielle Vibrationen mit einer Frequenz von 400 Hertz. Tomaten, Blaubeeren, Kürbisse - die können nur wir bestäuben, keine anderen Insekten schaffen das. Unsere Vibration löst den Pollen aus den Staubbeuteln wie ein winziger Presslufthammer.“

Herbert demonstriert seine Technik, sein ganzer Körper vibriert intensiv, und ich sehe fasziniert, wie Pollen wie ein goldener Regen aus der Blüte strömt. „Aber bekommen wir dafür Hummelhotels? Medienaufmerksamkeit? Schutzprogramme? Nein. Alle reden nur von den Bienen. ‚Rettet die Bienen!’ rufen sie. Dabei sind wir genauso wichtig, manchmal sogar wichtiger.“

Ich beobachte fasziniert die präzisen Bewegungen. „Warum machst du das dann? Bei so wenig Anerkennung?“

Herbert hält einen Moment inne, seine Antennen zucken nachdenklich. „Weil es jemand machen muss, Max. Weil ohne uns die Biodiversität zusammenbricht. Jede dritte Blüte da draußen ist auf uns angewiesen. In einem einzigen Sommer besucht eine Hummelkolonie über eine Million Blüten. Eine Million! Das ist die Grundlage für alles Leben hier.“ Er putzt nervös seine Fühler. „Es ist meine Funktion im großen System der Natur. Schon meine Mutter war Arbeiterin, meine Großmutter, meine Urgroßmutter. Wir halten seit Millionen von Jahren das Ökosystem am Laufen.“

Aus dem Haus ruft eine Stimme: „Max! Mittagessen!“

Mein Magen knurrt sofort, aber ich zögere zum ersten Mal in meinem kurzen Leben. „Herbert, willst du mitkommen? Zuhause ist bestimmt genug für uns beide da.“

Herbert schüttelt den Kopf, aber seine Stimme wird einen Hauch wärmer. „Keine Zeit, Kleiner. Noch 22 Blüten bis zur Pause. Aber…“ Er summt leiser, fast verschwörerisch. „Danke fürs Fragen.”

Gartenhummel

Die Hummel schmunzelt trotz Müdigkeit. „Pass gut auf dich auf, Max. Du hast ein gutes Herz. Und vergiss nicht, wer jeden Tag dafür sorgt, dass dein Garten blüht und gedeiht.“

Mit diesen Worten fliegt Herbert davon, schwerfällig aber zielbewusst mit seiner wertvollen Fracht. Ich zähle mit: Blüte 52, 53, 54… Bis Herbert hinter der großen Hecke verschwindet, immer noch arbeitend, immer noch systemrelevant.

Später, beschließe ich, werde ich meiner Familie alles erzählen - von Herbert und seinen 14-Stunden-Tagen, von der unsichtbaren Arbeit der Hummeln, und davon, dass manche Helden pelzig und klein sind und niemals eine Medaille bekommen.

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