Schuhgeschäft
In den frühen Morgenstunden, als die Sonne ihren ersten zaghaften Blick über den Horizont wirft, schwirrt Lina, die Gemeine Goldwespe, deren Flügel im sanften Licht schimmern, ziellos durch die erwachende Parklandschaft. Lina, die nur von ihrer strengen Mutter „Stachelina“ genannt wird, fühlt sich etwas einsam und sucht nach einer spannenden Ablenkung. Ihre Reise führt sie zu einem alten, knorrigen Baum, dessen Rinde die Geschichte vieler Jahrhunderte in sich birgt. In dessen Schatten findet sie Ari, eine ergraute und sehr weise Vierfleck-Zartspinne, die gerade damit beschäftigt ist, ihre kunstvollen Netze zu weben.
Eines von Aris acht Augen erkennt Lina, und die beiden beginnen eine Unterhaltung. Ihre Begegnung ist zuerst von einer vorsichtigen Neugier geprägt. Lina, gewohnt an die Schnelligkeit ihres Daseins, und Ari, eine Künstlerin der Stille und Beharrlichkeit, haben schließlich so einiges, das sie unterscheidet. Und worüber sollen Arthropoden sprechen, die sich nicht gut kennen? Natürlich reden sie über das Wetter, das ungewöhnlich mild für die Jahreszeit ist, und tauschen Anekdoten über das vergangene Wochenende aus. Lina erzählt von ihrem Abenteuer in einem Garten voller bunter Blumen, während Ari von der Ruhe in ihrem Netz berichtet, unterbrochen nur durch das gelegentliche Zappeln einer unvorsichtigen Fliege.
Die Stimmung zwischen den beiden wird immer angenehmer, und sie beschließen, gemeinsam die Umgebung zu erkunden und den Park in Richtung der Stadt der Menschen zu verlassen. Sie streifen durch das dichte Grün, vorbei an Tautropfen, die wie kleine Diamanten in der Morgensonne glitzern. Und so finden sie sich flink und leichtfüßig auf asphaltierten Wegen wieder, die, durch die kräftigeren Sonnenstrahlen, eine schimmernde Wärme abgeben. Ihre Unterhaltung fließt ungezwungen, bis sie plötzlich vor einem Schuhgeschäft stehen.
Es ist ein seltsamer Blick durch das Schaufenster, der die beiden zum Innehalten bringt. Ari, mit ihren acht Beinen, betrachtet neugierig die Auslagen, die Schuhe in allen erdenklichen Formen und Farben präsentieren. Lina, beeindruckt von der bunten Vielfalt, spürt schnell eine Regung von Neid. Denn sie weiß, dass sie — mit ihren sechs Beinen — niemals mehr als drei Paar Schuhe tragen kann, wohingegen Ari mit einer fabelhaften Auswahl von vier Paaren unterwegs ist. Dieser Moment führt die beiden zu einem Gespräch über ihre Unterschiede.
Ari erklärt, wie die Natur sie mit acht Beinen ausgestattet hat, ein Merkmal, das Spinnentiere von Insekten unterscheidet. „Siehst du“, beginnt Ari, „wir sind beide Arthropoden, Gliederfüßer, aber unsere Pfade haben sich vor langer Zeit getrennt. Insekten — wie du — haben sechs Beine, während wir Spinnentiere acht besitzen.“ Noch bevor Lina ihre Faszination über diese Tatsache äußern kann, fügt Ari hinzu: „Es ist zwar schön, so viele unterschiedliche Paar Schuhe tragen zu können, und auch mal wild zu mixen — zwei Paar Turnschuhe und zwei Paar schicke, festliche Schuhe kombiniert kann schon mal vorkommen. Aber — das muss ich zugeben — das geht ordentlich ins Geld. Mit drei Paaren, wie du sie tragen kannst, ist man definitiv günstiger unterwegs.“
Lina, nun weniger neidisch und stattdessen von Aris Offenheit fasziniert, fragt wissbegierig nach den Krebstieren, von denen sie gehört hat, dass auch sie Arthropoden sind. Die Spinne lächelt und erklärt, dass Krebstiere in der Tat eine andere Anzahl an Beinen haben, mindestens zehn und nicht selten mehr, was sie von den Insekten und Spinnentieren gleichermaßen unterscheidet. „Also ist unsere Vielfalt nicht nur ein Zeichen unserer Unterschiede, sondern auch unserer gemeinsamen Geschichte“, sinniert Lina. „Jede Art von Beinanzahl erzählt eine eigene Geschichte der Evolution und Anpassung.“
Diese Einsicht webt eine tiefere Verbindung des Verstehens und der Anerkennung ihrer Unterschiede. Mit einem Blick voller Bewunderung für das, was jeden von ihnen einzigartig macht, trennen sich die Wege von Wespe und Spinne. Worüber sie gesprochen haben, hallt beiden noch lange in Erinnerung nach: Menschen balancieren auf einem Paar durchs Leben, Wespen flitzen mit drei Paaren durch die Lüfte, Spinnen tänzeln auf vier Paaren über ihre Netze, und die Kellerassel, ein unterschätztes Wunder der Natur, manövriert geschickt mit dreizehn Paaren. Trotzdem teilen wir alle die gleiche Erde und atmen die gleiche Luft. In dieser Vielfalt liegt unsere geteilte Verantwortung für den Planeten, der uns alle beherbergt.